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Foto: Bernd Höfer, Breklum

Kreishaus in der Marktstraße in Husum

10.10.2023

Nordfriesen appellieren an den Bund: Keine Kürzung bei Beratung von Migranten

Die Bundesregierung überlegt, bei der Hilfe zur Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft 35 Millionen Euro im Jahr zu streichen. Welch verheerende Folgen dies in der täglichen Arbeit vor Ort haben könnte, erläuterten Landrat Florian Lorenzen und mehrere Fachleute aus Nordfriesland in einem Pressegespräch am 10. Oktober 2023 im Husumer Kreishaus.

Die meisten Migranten gelangen als Asylbewerber nach Deutschland. Sie werden vom Bund über die Länder und die Kreise auf die kommunale Ebene verteilt. In Nordfriesland kommen sie auf diese Weise bei den acht Ämtern und der Stadt Husum an. Sie verschaffen den Geflüchteten zunächst ein Dach über dem Kopf.

Flächendeckende Anlaufstellen

Viele werden über Jahre und einige ihr ganzes Leben lang in Deutschland bleiben. Doch die Eingewöhnung ist schwer: Sie kennen weder die Sprache noch die Sitten und Gebräuche des Landes, wissen nichts über das Bildungssystem, das Asylverfahren oder wie sie an eine ärztliche Behandlung kommen.

»Wir müssen die Menschen auffangen und ihnen die ersten Schritte in ein menschenwürdiges Dasein aufzeigen. Bei uns gibt es flächendeckend Anlaufstellen, die ihnen den Weg weisen«, erklärt Landrat Florian Lorenzen.

Kreis und Ämter halten hierfür eigenes Personal bereit. Es wird teils von Bund und Land gefördert. Zusätzlich haben sie in Eiderstedt und Husum Verträge mit dem Diakonischen Werk Husum geschlossen, die das Angebot mit eigener Fachkompetenz erweitern. Zudem bietet der Kinderschutzbund den Jugendmigrationsdienst als unabhängiges Angebot an.

Extrem verunsichert und traumatisiert

»Die meisten Geflüchteten sind extrem verunsichert. Viele wurden durch Krieg, Vertreibung und ihre Erlebnisse auf der Flucht traumatisiert«, erläutert Peter Martensen, der Integrationsbeauftragte des Kreises. »Wir haben in Nordfriesland ein aus rund 40 haupt- und vielen ehrenamtlichen Kräften bestehendes Netzwerk. Es bietet den Neuankömmlingen die Sicherheit, dass es ständig jemanden gibt, der einem weiterhilft.«

Qualifiziertes Personal erforderlich

Allein das Diakonische Werk Husum beschäftigt in Husum elf Personen in seiner Fachstelle Migration, darunter mehrere Sprach- und Kulturmittler. Drei von ihnen sprechen Arabisch, zwei Persisch, einer Arabisch und Russisch und zwei Ukrainisch.

Auf Eiderstedt hält es fünf zusätzliche Kräfte vor, darunter einen Migrationberater sowie Arabisch und Ukrainisch sprechende Sprach- und Kulturmittler. In beiden Fachstellen bieten Ehrenamtliche zudem Sprachkurse an oder helfen bei der Alltagsbegleitung. Sie betreuen ihre Klienten meist über mehrere Jahre hinweg und erzielen sehr gute Erfolge.

Adelheit Marcinczyk leitet den dafür zuständigen Fachbereich im Diakonischen Werk. Sie freut sich besonders über Migranten, die, nachdem sie selbst Fuß gefasst haben, sich ehrenamtlich für andere Geflüchtete engagieren. Sie begleiten sie etwa in der ersten Zeit als Dolmetscher zu Gesprächen mit Kita, Schule oder in Arztpraxen.

»Wer realistisch auf die Krisenherde der Welt und die demografische Entwicklung bei uns blickt, weiß, dass der Bedarf an Beratung und Begleitung von Migranten nicht sinken wird. Was uns vor allem fehlt, ist eine solide Basisfinanzierung dieser anspruchsvollen Aufgabe«, stellt sie fest. Gute Fachkräfte zu gewinnen, setze unbefristete Verträge voraus.

Die jetzige Strategie, bei jeder neuen Flüchtlingswelle kurzfristig qualifiziertes Personal zu suchen, bewähre sich nicht. Deshalb setze sie große Hoffnung in die gestern vom Land angekündigte, mit Fördermitteln unterfütterte Integrationsstrategie.

Zudem plädiert sie für die Schaffung einer fundierten Ausbildung für Sprach- und Kulturmittler: »Sie sollten neben Deutsch mindestens zwei Sprachen aus den Krisengebieten der Welt flüssig sprechen und das Übersetzen richtig gelernt haben«, fordert Adelheit Marcinczyk. Sinnvoll sei zudem eine Spezialisierung auf bestimmte Aufgabenfelder, etwa Soziales, Handwerk oder Tourismus. »Davon würden auch die Arbeitgeber massiv profitieren«, ist sie überzeugt.

Junger Afghane in handwerklicher Ausbildung

Urte Andresen arbeitet im Jugendmigrationsdienst des Kinderschutzbundes, der für die Beratung der Zuwanderer von zwölf bis 27 Jahren zuständig ist. Sie schildert den Fall eines jungen Afghanen, der vor den Taliban nach Griechenland floh und dort auf der Straße leben musste. Da Griechenland ihm keinerlei Perspektive bot, schlug er sich bis nach Deutschland durch.

Nach den Regeln der EU wäre Griechenland für ihn zuständig, doch aufgrund der dortigen Zustände fährt Deutschland seit Jahren niemanden dorthin zurück.

»Der junge Mann war psychisch völlig am Boden. Wir haben ihm eine psychosoziale Begleitung samt Dolmetscher vermittelt«, erinnert sich Urte Andresen. Nach längerer Zeit erhielt er einen Platz in einem Sprachkurs.

»Vorher hat er sich mit unserer Anleitung selbständig online erste Deutschkenntnisse angeeignet. Inzwischen ist er stabil, spricht gut Deutsch und macht eine Ausbildung als Heizungsinstallateur. Gelingen konnte das nur durch die enge Anbindung, die die Menschen stabilisiert und ihnen verlässlich in allen Lebensfragen Rat bietet«, berichtet die Fachfrau.

Die ersten Jahre nicht verschwenden

Armin Boguhn kümmert sich im Diakonischen Werk Südtondern um die Migrationsberatung für Erwachsene. Er schildert den Fall einer irakischen Familie mit drei Kindern. Gegen die Ablehnung ihres Asylantrages klagt sie vor Gericht. Während das Verfahren läuft, hat die Familie kein Recht auf einen Sprachkurs.

Alle zeigen trotzdem ein großes Interesse daran, sich in Deutschland zu integrieren. Die Eltern lernen über YouTube-Filme Deutsch. Die Kinder kommen in der Schule sehr gut mit. Nach bisherigen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass sie eine gute Bleibeperspektive haben.

»Wir haben ihnen geholfen, ihre ersten Jahre hier nicht zu verschwenden, sondern klug zu nutzen. Der Vater ist Hochschuldozent – mit Deutschkenntnissen wird er problemlos Arbeit finden, seine Familie ernähren und Steuern zahlen können«, betont Boguhn.

Migranten wollen sich gesellschaftlich und beruflich etablieren

Adelheit Marcinczyk weist darauf hin, dass all diese Erfolge erst durch die flächendeckende Beratung möglich wurden. »Zum ganz überwiegenden Teil haben die Migranten das Ziel, sich gesellschaftlich und beruflich hier zu etablieren. Ohne eine gute Begleitung in den ersten Jahren wären sie wesentlich länger auf staatliche Leistungen angewiesen«, stellt sie fest.

Mittelkürzung würde Wirtschaft massiv schaden

Überall in Deutschland fehlen Fachkräfte. »Auch deshalb wäre es geradezu fahrlässig, die Mittel für die Beratung zusammenzustreichen. Denn das würde der Wirtschaft massiv schaden. Die jungen Migranten, die heute zur Schule gehen, sind ebenso Auszubildende und Studierende von morgen«, unterstreicht Landrat Florian Lorenzen.

Integration verhindert Parallelgesellschaften 

Deshalb appellieren er und die Fachleute an die Bundesregierung, die Mittel für die Migrationsberatung und den Jugendmigrationsdienst nicht zu kürzen, sondern die Förderung aufgrund der großen Anzahl an Geflüchteten noch auszubauen. Umso schneller könnten sie sich in die Gesellschaft integrieren.

Zudem könne so aktiv der Entwicklung potenzieller Parallelgesellschaften entgegengewirkt werden, und die Neuankömmlinge würden befähigt, ihren Beitrag zur Sicherung der Zukunft Deutschlands leisten.